Ein jeder weiß aus eigener Erfahrung, wie wichtig ein starkes Selbstbewusstsein, genauer: ein gutes Selbstwertgefühl, für die psychische Gesundheit ist. Mehr noch: Wer unsicher auftritt, dürfte kaum Erfolg im Beruf haben, Männer mit einem „Minderwertigkeitskomplex“ haben im Wettstreit um das andere Geschlecht eher das Nachsehen.
Wer solchen pauschalen Einschätzungen glaubt, ist in großer Gesellschaft: Schutz und Stärkung des Selbstwertgefühls gelten in den USA als Angelegenheit von geradezu nationalem Interesse. Jugendkriminalität, Schwangerschaft von Minderjährigen, Drogenmissbrauch, schwache schulische Leistungen und Umweltverschmutzung, ja sogar ein schwindendes Steueraufkommen hoffen amerikanische Regierungen durch entsprechende Förderprogramme zu bewältigen. Doch im Licht moderner Forschung lösen sich vielgeliebte Thesen in Luft auf, wie „Spektrum der Wissenschaft“ berichtet.
Eine wirkliche Datenbasis hatten diese diversen Initiativen bislang nicht, vier namhafte Psychologen von der Universität von British Columbia in Vancouver (Kanada) haben nun hunderte von Studien begutachtet und die methodisch saubersten im Rahmen einer so genannten Metastudie ausgewertet. Das Ergebnis war vernichtend. Schulische Leistung und Selbstbewusstsein? Es liegt doch auf der Hand, dass von sich überzeugte Schüler Niederlagen besser weg stecken und in Prüfungen die stärkere Leistung zeigen. Doch keine Studie vermochte eine derartige Korrelation nachzuweisen. Im Gegenteil: Wurden Studenten gezielt mit Botschaften versorgt, die ihr Selbstbewusstsein steigern sollten, schnitten sie bei einer Prüfung schlechter ab als eine Vergleichsgruppe, deren Botschaften die Eigenverantwortung betonten.
Nicht einmal der nahe liegende Zusammenhang von gutem Aussehen, Beliebtheit und Selbstbewusstsein lässt sich beweisen. Vielmehr scheint es zwar so zu sein, dass Menschen mit einer hohen Meinung von sich selbst meist auch ihre Attraktivität und Beliebtheit positiv bewerten, doch offenbar teilt ihre Umgebung diese Meinung nicht unbedingt.
Nur in einer Hinsicht gelang der Nachweis: Wer ein stabiles Selbstbewusstsein besitzt, ist mit seinem Leben meist auch zufriedener als jemand, der sich in wenig gutem Licht sieht. Doch scheint dies zwar für den Einzelnen, nicht aber unbedingt für die Gesellschaft relevant zu sein. Alkohol- und Drogenmissbrauch, Neigung zur Gewalt – all das lässt sich über Förderprogramme zur Steigerung des Selbstwertgefühls ebenso wenig bekämpfen, wie das Steueraufkommen irgendeines anderen Landes vom Selbstwertgefühl der Berufstätigen abhinge.
Spektrum der Wissenschaft August 2005